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... Die notwendigen Regeln sind in der Natur unserer Vorstellungen gegründet; die zufälligen sind die Frucht des Augenmaßes und eines Gefühls, dessen eigentliche Schranken nicht zu bestimmen sind. Eine lange Erfahrung lehrt, dass die griechischen Baumeister ein feines Auge gehabt haben, dass ihre Verhältnisse gefallen, dass ihre Verzierungen angenehm sind. Aber niemand ist im Stand, zu beweisen, dass sie die einzigen guten sind.
Von verschiedenen Verzierungen wissen wir, dass sie ganz zufällig sind und dass man oft angenehmere an ihre Stelle setzen könne. Sich gänzlich an die Regeln der Alten binden wollen, heißt eben so viel als urteilen, dass keine weibliche Figur schön sein könne, die nicht in allen Stücken der medicischen Venus gleicht und keine männliche, die nicht alle Verhältnisse des Apollo in Belvedere hat.
Wir raten demnach denen, welche über die Theorie der Baukunst schreiben, dass sie zuvorderst die notwendigen Regeln ausführlich und wohl aus einander setzen und deren Beobachtung genau einschärfen; weil es niemals erlaubt ist davon abzugehen. Die zufälligen Regeln können sie aus den besten Mustern des Altertums, aus dem Vitruvius und den besten neueren Baumeistern nehmen, ohne deren genauste Beobachtung als schlechterdings notwendig anzupreisen. Man muss sie nur als ungefähr richtige Grenzen ansehen, welche man niemals weit überschreiten kann, ohne in gefährliche Abwege zu geraten. Für schlechte Baumeister, die selbst kein Augenmaß und wenig Geschmack haben, ist es sehr gut, wenn sie sich genau an diese Regeln binden. Die aber ein feines Auge und einen sichern Geschmack haben, können sie sehr oft ohne Gefahr verlassen.
In allen Artikeln, wo wir von zufälligen Regeln zu sprechen haben, werden wir uns hauptsächlich an die halten, welche Goldmann angegeben hat. Man wird schwerlich einen Baumeister finden, der seine Kunst mit einem so scharfen Nachdenken bearbeitet hat als dieser. Die allgemeinen, so wohl notwendigen, als zufälligen Regeln müssen auf folgende Hauptstücke besonders angewendet werden.
1) Auf die Anordnung oder Figur und Form der Gebäude überhaupt.
2) Auf die innere Einteilung.
3) Auf die Verzierung besonderer Teile. Wenn also die Theorie in ihrem ganzen Umfange vorgetragen wird, so enthält sie folgen de Hauptstücke.
1) Allgemeine Untersuchungen über die Vollkommenheit und Schönheit eines Gebäudes. 2) Regeln über die Anordnung.
3) Regeln über die Einteilung.
4) Betrachtungen und Regeln über die Schönheit der Außenseiten (Façades.)
5) Betrachtungen und Beschreibungen der verschiedenen Säulenordnungen.
6) Von den kleinen Verzierungen der Glieder.
7) Von den inwendigen Verzierungen.
Das mechanische der Baukunst übergehen wir hier.
Johann Georg Sulzer
(1720-1779)
Allgemeine Theorie der schönen Künste, 1771-74.
http://www.textlog.de/7590.html
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