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"Schönheit als Wahrheitskriterium" |
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9.04.05 - 10:00:01 |
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spectralanalysis series, 8 • Michael Wagner |
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»Übrig bleibt, daß alles digital ist, also daß alles eine mehr oder weniger dichte Streuung von Punktelementen, von Bits, angesehen werden muß. Dadurch wird es möglich den Begriff ›real‹ in dem Sinne zu relativieren, daß etwas desto realer ist, je dichter die Streuung ist, und desto potentieller, je schütterer sie ist. Was wir real nennen und auch so wahrnehmen und erleben, sind jene Stellen, jene Krümmungen oder Ausbuchtungen, in denen die Partikel dicht gestreut sind und sich die Potentialitäten realisieren.« Dieses von den Computern vor Augen geführte digitale Weltbild zwingt uns nicht nur eine neue Ontologie, sondern auch eine neue Anthropologie auf. »Wir haben uns selbst – unser ›Selbst‹ – als eine derartige ›digitale Streuung‹, als eine Verwirklichung von Möglichkeiten dank dichter Streuung zu begreifen.« Doch die Einsicht allein, daß auch wir »digitale Komputationen aus schwirrenden Punktemöglichkeiten« sind, genügt Flusser nicht. Er fordert diese neue Anthropologie nicht nur erkenntnistheoretisch, z.B. psychoanalytisch oder neurophysiologisch zu verarbeiten, sondern auch in die Tat umzusetzen. In den aus den Computern auftauchenden alternativen Welten sieht er eine Umsetzung des Eingesehenen in die Tat. »Wir sind«, so deutet radikal und provokativ Flusser in seinem Beitrag die von den Technologien verursachte Veränderung der menschlichen Existenz, »nicht mehr die Subjekte einer uns gegebenen objektiven Welt, sondern Projekte von alternativen Welten. Aus der unterwürfigen subjektiven Stellung haben wir uns ins Projizieren aufgerichtet. Wir werden erwachsen. Wir wissen, daß wir träumen.« Voraussetzung für die Indifferenz zwischen Träumen und Wachen, zwischen Imaginärem und Realem, zwischen Illusion und Wahrnehmung ist die mit der Renaissance eintretende Zerstörung der Ähnlichkeit, die für Flusser im digitalen Code mündet. „Wir müssen jetzt die Gegenstände um uns herum, aber auch unser eigenes Selbst, das früher Geist, Seele oder einfach Identität genannt wurde, als Punktkomputationen durchschauen. Wir können keine Subjekte mehr sein, weil es keine Objekte mehr gibt, deren Subjekte wir sein könnten, und keinen harten Kern, der Subjekt irgendeines Objektes sein könnte. Die subjektive Einstellung und dadurch auch jede subjektive Erkenntnis sind unhaltbar geworden…Das zeigt sich am deutlichsten daran, daß wir keinen Unterschied mehr zwischen Wahrheit und Schein oder zwischen Wissenschaft und Kunst machen können.« Das Problem eines Unterscheidungskriteriums zwischen Realem und Imaginären, meist verbunden mit der unsicher gewordenen Grenzziehung zwischen dem Natürlichen und Künstlichen, tritt in der beginnenden Neuzeit in vielfältigen Formen und auf allen Ebenen auf. Erst mit ihrer Unterscheidung etabliert sich das Gefüge ausdifferenzierter Geltungssphären, in dem Wissenschaft und Kunst sich nach der Renaissance voneinander abspalteten. Daß heute diese Unterscheidung wissenschaftstheoretisch wie ästhetisch wieder zurückgenommen wird führt Flusser in seinem Beitrag zwar exemplarisch vor, schwankt dabei aber unentscheidbar zwischen Diagnose und Faszination. Der von ihm thematisierte »digitale Schein« bedeutet letztendlich, daß alle Kunstformen durch die Digitalisation zu exakten wissenschaftlichen Disziplinen werden und von der Wissenschaft nicht mehr zu unterscheiden sind. Interessant ist die Tatsache, daß das Wort »Schein« dieselbe Wurzel hat wie das Wort »schön« und das sieht Flusser in Zukunft als ausschlaggebend. Was er damit meint ist, »daß wir von jetzt an die Schönheit als das einzig annehmbare Wahrheitskriterium begreifen müssen: ›Kunst ist besser als Wahrheit‹. An der sogenannten Computerkunst ist das bereits jetzt ersichtlich: Je schöner der digitale Schein ist, desto wirklicher und wahrer sind die projizierten alternativen Welten.« Michael Wagner, 2003. Alle Zitate aus: Vilém Flusser, Digitaler Schein; in: Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Hg.: Florian Rötzer, Frankfurt 1991. |
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