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"natura libellum"
   
         
18.04.05 - 16:00:00
   
       
   
         
spectralanalysis series, 7 • Michael Wagner
   
       
   
             
          spectralanalysis_7    




Vilém Flusser präsentiert eine stark verkürzte Darstellung des modernen Umkodierens des theoretischen Denkens von Buchstaben in Zahlen und die daraus folgende Veränderung des prozessuellen, historischen und aufklärerischen Bewußtseins zu einem formalen, kalkulatorischen und analytischen Bewußtsein. Er betont, daß trotz eines langen Entwicklungsprozesses hier von einem geistigen Umbruch gesprochen werden muß und daß mindestens seit der Bronzezeit Menschen formal gedacht haben, z.B. Kanalisationsanlagen auf Tontafeln entwarfen. Flusser nennt diese Geometer die geistigen Vorfahren der sogenannten Computerkünstler, denn indem sie keine Abbilder von Gegebenen erzeugten, sondern Entwürfe für noch nicht Verwirklichtes verfertigten, projizierten sie alternative Welten. »In ihren Entwürfen kommt ebenso wie in den synthetischen Computerbildern ein formales mathematisches Bewußtsein zum Ausdruck.«

War zu Beginn der Neuzeit »Theorie« jener Blick, dank dem bisher unveränderliche Formen erkannt wurden, so sahen die Handwerker der Frührenaissance in Formen nicht länger ewige Ideale, sondern veränderbare Modelle. Unter Theorie verstanden sie nicht das passive Betrachten von Idealen, sondern das progressive Ausarbeiten von Modellen, die sich der Praxis, also der Betrachtung und dem Experiment, zu stellen hatten. Überraschenderweise stellte sich heraus, daß derartige formalen Arbeitsmodelle keine Bilder und auch keine Texte sein konnten, sondern daß es Algorithmen waren.

»Seit der Renaissance hat ein Teil der ›geistigen Elite‹, der litterati, begonnen, formal-kalkulatorisch anstatt diskursiv-historisch zu denken und sich in Algorithmen anstatt in literarischen Texten auszudrücken. Das Motiv für diese Umstellung war die Erwartung, daß dieses Denken für das Erkennen und Behandeln der Umwelt, vielleicht sogar für das der Menschen und der Gesellschaft, ›adäquat‹ sei… Diese Überraschung, daß die Welt, um es in der Sprache der Renaissance zu sagen, ein Buch ist – ›natura libellum‹ –, das in Zahlen kodifiziert ist, haben wir übrigens noch immer nicht völlig überwunden. Von da an mußten die Theoretiker immer mehr in Zahlen und immer weniger in Buchstaben und Bildern denken.«

Das Umkodieren bringt für Flusser die bereits erwähnte grundlegende erkenntnistheoretische Frage mit sich, ob es etwas gibt, daß nicht trügt. Descartes gab darauf etwa folgende Antwort: »Was nicht trügt, ist das disziplinierte, klare und deutliche arithmetische Denken… Die denkende Sache - res cogitans - hat arithmetisch zu sein, um die Welt erkennen zu können.«

Michael Wagner, 2003.

Alle Zitate aus: Vilém Flusser, Digitaler Schein; in: Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Hg.: Florian Rötzer, Frankfurt 1991.






         
 
               
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