... Den Bereich des Echten und der Aura beschränkt Walter Benjamin nicht auf historische Artefakte, er bindet den Begriff der Aura vielmehr an ein bestimmtes Gewahrsein der Welt: Die Aura "definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft - das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen." Benjamin beschreibt hier als auratisch die Erfahrung einer singulären und subjektiv erlebten Präsenz - ganz ähnlich wie Capra, Gelpke oder Huxley solches Gewahrsein im Zusammenhang einer dem Alltagsbewußtsein gegenüber erweiterten Wahrnehmung beschrieben haben.
Benjamin knüpfte den Verfall der Aura an das massenhafte Auftreten von Reproduktionen, die Anwesenheit suggerieren, doch nicht einhalten. Damit, meinte Benjamin, verändere sich nicht nur die Art und Weise der Sinneswahrnehmung, sondern auch die gesamte Daseinsweise der menschlichen Kollektiva: "Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert - das Medium, in dem sie erfolgt - ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt." ...
... Nach Dieter Mersch -
(Ereignis und Aura. Zur Dialektik von ästhetischem Augenblick und kulturellem Gedächtnis. In: Musik und Ästhetik, 1. Jahrgang, Heft 3. Stuttgart Klett-Cotta. Juli 1997)
- entnahm Benjamin das Phänomen der Aura der Ästhetik Paul Valérys als ein 'Sehen, das vom Anderen herkommt' und mit der Einmaligkeit des Augenblicks zusammenfällt. Das Auratische ist wesentlich singular, und es ist an die Anwesenheit eines Anderen gebunden. Brecht schrieb in seinem Arbeitsjournal: Benjamin "geht von etwas aus, was er Aura nennt, was mit dem Träumen zusammenhängt (dem Wachträumen). Er sagt: Wenn man einen Blick auf sich gerichtet fühlt, auch im Rücken, erwidert man ihn (!). Die Erwartung, daß, was man anblickt, einen selber anblickt, verschafft die Aura." Benjamins Rede von der 'Ferne, so nah sie sein mag' interpretiert Mersch als Differenz zwischen dem Ästhetischen und dem Gewöhnlichen. Das Gewöhnliche ist charakterisiert durch Zweckmäßigkeit, das Ästhetische im ursprünglichen Sinne von Aisthesis bedeutet gerade nicht das Betrachten der Kunst oder Natur nach der Maßgabe strikter Subjekt-Objekt-Verhältnisse, sondern wir werden wahrnehmend "von ihnen berührt und aufgestört." Erwartungshorizonte werden überschritten, die wahrgenommenen Phänomene entziehen sich der Einordnung in vertraute Interpretationsmuster - ...
... Indem das Rezeptionsangebot derart den Vorstellungen der Rezipienten widerspricht, können Reaktionen ausgelöst werden, die der Möglichkeit nach zur reflexiven Korrektur der eigenen Einstellungen führen können. Rezeptionsästhetisch gesprochen kann daraus der Abbau von Unbestimmtheit erfolgen, das Werk kann an die eigenen Erfahrungen und Weltvorstellungen angeschlossen werden.
Die populären Formen des Films und der Fotografie zielen darauf ab, analog dem Gewöhnlichen gelesen und verstanden werden zu können. Filme sind tendenziell so angelegt, daß es möglich ist, Bilder und Sequenzen rasch zu entziffern und in erlernte Wissenszusammenhänge einzuordnen. Das, meint Mersch, schlage auf die Fähigkeit zur Rezeption zurück. Mit dem Verlust der Singularität, der Aura, "schwindet so die Sensibilität der Sinne. Wahrnehmung depraviert (verringert sich) auf die Erfüllung eines Codes, der das Identische und somit Erwartete nährt, statt das Unerwartete und also Nicht-Codierbare zu forcieren. Der bestürzende Befund Benjamins impliziert aus diesem Grunde einen zweiten: den des Konformismus der Bilder, Musiken und Erzählungen, der sich durch die technischen Medien selbst aufzwingt und in Fernsehen und Schlager seine endgültigen Triumphe feiert. Wo deren Codes die Wahrnehmung diktieren, findet er bestenfalls seine fortgesetzte Spiegelung - keine Irritation, die das Bekannte umstürzte, keine Erschütterung, die die Gesetze des Alltags sprengten und die Sinne zu schärfen vermöchten." Mersch macht diese Bemerkungen im Zusammenhang mit avantgardistischen Musikstücken (Wolf Vostell beispielsweise, oder La Monte Young) ...
Dr. phil. Gabriele Schmid, ILLUSIONSRÄUME, 1999.
http://www.eugwiss.hdk-berlin.de/schmid/diss/III.45.html
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