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"Das digitale Bild ist keine Fotografie?"
   
         
18.06.05 - 19:23:10
   
       
   
         
sensitize, take • Michael Wagner
   
       
   
             
       

sensitize





Betrachtung des neuen Bildmediums unter dem
Aspekt der Sieben Thesen von Christian Wittwer:

(Christian Wittwer: Das digitale Bild ist keine Fotografie.
Sieben Thesen. Ev.: Neue Züricher Zeitung 1997)

Christian Wittwer beschreibt in seinen "Sieben Thesen" zum digitalen Bild dessen neue Möglichkeiten der Bilderzeugung unter dem Gesichtspunkt eines physikalischen Aspekts, zu dem hauptsächlich Erkärungen der neuen Technik gehören. Er geht davon aus, daß es sich bei der digitalen Fotografie um ein völlig neues und autonomes Bildmedium handelt, welches sich in seinen medialen Grundbedingungen vom analogen fotografischen Bild ebenso unterscheidet wie vom gemalten.

Den Begriff "digitale Fotografie" hält Wittwer in seiner ersten These für irreführend, denn er impliziert, das es sich bei der neuen digitalen Bilderzeugungstechnologie nur um eine technische Weiterentwicklung der konventionellen Silbersalzverfahren handelt.

"Digital Imaging" ist für ihn als Bezeichnung der neuen Technologie konsistenter, weil diese eben nicht auf der Veränderung einer alten Bilderzeugungstechnologie basiert. Da verschiedene Kamerahersteller die überzeugende Strategie der Umrüstung von analogen Kameras zu digitalen verfolgen, anstatt von Grund auf neue Kameramodelle zu konstruieren, und damit bestehendes Zubehör weiter eingesetzt werden kann, wird aber doch eine enge Verwandtschaft zwischen analoger und digitaler Bildtechnologie vorgetäuscht. Dies umso mehr, als das Endergebnis, das Bild als Print oder Druckerzeugnis, keine Rückschlüsse auf seine Entstehungsgeschichte zuläßt.
Dem fotografischen Bild in seiner haptischen Form als Print oder Druck scheint zur Speicherung von visueller Information noch immer die Wahl mit der größten Akzeptanz zu sein, obwohl die Aufnahmen sogar schon am Fernsehmonitor betrachtet werden können. Dieser materielosen und flüchtigen Variante, die vor allem ihre Anwendung im Internet findet gehört jedoch die Zukunft.

Von digitaler Fotografie spricht man, wenn zur Aufnahme Kameras eingesetzt werden, bei denen anstelle des Filmmaterials eine aus CCD-Elementen gebildete Rezeptionsfläche in der Fokussierungsebene liegt. Dieser sogenannte Chip ist mit roten, grünen und blauen Filtern bedampft und wandelt die einfallende Lichternergie in elektrische Energie um. Bei den sogenannten "Snapshotkameras" aus dem Kleinbild- bzw. Consumerbereich ist der optische Sucher durch einen LCD-Display ersetzt worden. Im Mittelformat- bzw. Profibereich gibt es digitale Kamerarückteile mit direkter Schnittstelle zum Computer über Fire-Wire-Technologie und mit zwei Aufnahmeverfahren: der One-Shot-Technik für bewegte Objekte und der Three-Shot-Technik, die im RGB-Modus drei Teilbelichtungen in höchster Auflösung für beste Farbtreue anlegt. Zu dieser digitalen Aufnahmehardware gehört eine Software, da alle Aufnahmesteuerungen per Computereingabe durchgeführt werden.

Die Bezeichnung „Digital Imaging“ ist für Wittwer auch deshalb konstistenter, weil er nicht mehr auf den vom griechischen "phos"=Licht und "graphein"=schreiben abgeleiteten Begriff der Photographie hinweist, also auf den Vorgang des selbsttätigen Einschreibens von Information in die lichtempfindliche Schicht. Zudem umfaßt digital imaging mehr, nämlich alle Verfahren zur Bearbeitung und Visualisierung digitaler Daten. Damit ist auch ein Verfahren wie die Thermografie eingeschlossen, bei dem ein thermaler Scanner die Temperatur eines Objekts bestimmt. Diese Daten werden als Helligkeits- oder auch als Farbwerte visualisiert und dienen dem Auffinden von z.B. energetisch-baulichen Schwachstellen.

In der Medientheorie mit ihrer charakteristischen Unterscheidung von Primär-, Sekundär- und Tertiärmedien sieht Wittwer den Unterschied zwischen Fotografie und digitaler Bildbearbeitung explizit. Während ein Sekundärmedium wie die Fotografie den Technikeinsatz nur auf der Produktionsseite kennt, charakterisieren sich Tertiärmedien durch ihren Technikeinsatz sowohl auf der Produktions- als auch auf der Rezeptionsseite. Das konventionelle fotografische Bild ist dem menschlichen Wahrnehmungsapparat direkt zugänglich, das digitale erst über einen Transfor-mationsprozeß.
Diese Bedingung führt Wittwer zu seiner zweiten These , die besagt, daß analoge Bilder sichtbar digitale sind und rechenbar.

Die visuelle Wahrnehmung des Menschen basiert auf dem Licht als Informationsträger. Das fotografische Silberbild hat eine Mikrostruktur, die nur zwei Zustände kennt: silbertragende und silberfreie Stellen. Trotz dieser binären Struktur des fotografischen Silberbildes handelt es sich beim fotografischen Bild um ein analoges Medium, denn die Information ist für den Menschen unmittelbar erfassbar und nicht codiert.

Das digitale Bild ist eine codierte, mathematische Struktur in Form einer zweidimensionalen Matrix. Dem trägt die französische Bezeichnung "photographie nummérique" Rechnung. Die Matrix, unterteilt in Linien und Kolonnen, besteht aus symmetrisch angeordneten Bildelementen, "picture elements" oder einfach "Pixel" genannt. Das Pixel, der Bildpunkt, ist die kleinste Informationseinheit des digitalen Bildes und beschreibt einen spezifischen Ton- oder Farbwert.
Das digitale Bild als numerische Struktur ist nicht sichtbar, aber es kann von Rechnern erfasst und bearbeitet werden. Was uns endlich von Plakatwänden und Bildschirmen visuell entgegentritt, sind analoge Repräsentanten dieser digitalen Struktur. Die Schnittstelle zwischen digitaler Matrix und ihrer analogen Visualisierung stellt für Wittwer einen der kritischen Faktoren im digitalen Workflow dar.

Daß digitale Bilder direkt mit der Wirklichkeit verknüpft sind und auf sie verweisen, besagt die dritte These von Wittwer, wo er auch das digitale Verfahren der generierten Bilder anspricht.

Die Camera obscura stellte noch einen unmittelbaren Bezug zwischen Objekt und Bild her, wodurch dem Medium einen hohes Maß an Authentizität zugesprochen wurde.
Seit der masssenhaften Verbreitung der digitalen Bildtechnologie ist der Glaube an die Unbestechlichkeit der Bilder schwer erschüttert. Das analoge Bildmedium wird bezüglich seines Wahrheitsgehalts neu beurteilt und selbst Ikonen der Dokumentarfotografie werden der Manipulation verdächtigt. Die Zuordnungen empfiehlt Wittwer hier authentisch und objektiv streng auseinanderzuhalten.
Das Objekt ist aufgrund selektiver, abstrahierender, und interpretierender Faktoren deutlich vom analogen fotografischen Abbild zu differenzieren.

Das digitale Bild ist seinem Wesen nach nicht mehr direkt mit einem realen Objekt verknüpft und erhebt keinerlei Anspruch auf Authentizität. Es ist autonom und läßt keinen Rückschluß zu, daß das abgebildete Objekt auch wirklich existent war. Dadurch verliert es entgültig, nach früheren analogen Fotomontagen schon zweifelhaft, seine Bedeutung als Zeuge im Bildjournalismus und vor Gericht. Dies hat wiederum weitreichende Folgen für alle analog mechanisch erzeugten Bilder, denn es ist unmöglich vom Bild her Rückschlüsse auf seine Entstehungs- oder Manipulationsgeschichte zu ziehen. Deshalb wird aus journalistischen Kreisen die eindeutige Deklarierung manipulierten Bildmaterials gefordert; vergleichbar mit der Forderung nach der Deklarierung genmanipulierter Lebensmittel. Hier weist Wittwer auf das Problem der Grenzziehung hin, denn im Prinip sei schon der Digitalisierungsvorgang an sich eine Manipulation der Information und erst recht einfache Retuschen wie sie heute praktisch an jedem Bild vorgenommen werden.

In seiner vierten These macht Wittwer darauf aufmerksam, daß im Gegensatz zum analog-fotografischen das digitale Bild zwar resistent ist gegen Umwelteinflüsse. Die rasante Entwicklung der technologischen Strukturen hat jedoch zur Folge, daß gespeicherte Bilddaten, obwohl physisch unversehrt, nur zeitlich limitiert lesbar.

Fotografien haben nur eine begrenzte Lebensdauer. Der Einfluß verschiedener Umweltfaktoren wie UV-Licht, Temperatur und Feuchtigkeit bestimmen wie lange ein Bild in einem stabilen Zustand bleibt.
Das digitale Bild als nummerischer Code wird für gewöhnlich auf einem externen Speichermedium abgelegt. Dieser physische Träger hat zwar auch eine begrenzte Haltbarkeit, doch meistens ist die verwendete Speichertechnologie schneller veraltet. Da zum Lesen der digital gespeicherten Bildinformation bestimmte Software- und Hardwareerzeugnisse nötig sind, ist es durchaus möglich, das eine physisch intakte Bildinformation nicht mehr entschlüsselt werden kann.
So ergibt sich heute die absurde Situation, daß gewisse Anwender digitale Bildfiles zur Langzeitarchivierung wieder auf konventionelles Filmmaterial ausbelichten.

Die fünfte These Wittwers erläutert warum das digitale Bild die Anforderungen des Informationszeitalters erfüllt: es ist billig, flexibel und schnell.
Zu Millionen (oder gar Milliarden) in Bilddatenbanken gespeichert und jederzeit online verfügbar entwirft das digitale Bild heute eine Gegenwelt, die mit spezifischen Suchwerkzeugen erkundet werden kann. Dabei wird nicht nur Stichworten, sondern auch nach Formen, Bildkompositionen uns Struktur gesucht. Neue Bilder können aus Einzelheiten vorhandenen Bildmaterials generiert werden, wodurch sich das Bild noch weiter von der Realität entfernt. Es macht sich selbstständig, es ist autonom.

Beim digitalen Bild findet ein Technikeinsatz nicht nur auf der Produktionsseite, sondern auch auf der Rezeptionsseite statt, denn das materielose, unsichtbare und rechenbare Bild ist ja eine rein mathematische Struktur und wird erst nach einem technologischen Umwandlungsprozeß sichtbar – also wieder analog.
Die aktuelle Entwicklungsphase der Digitalisierung aller Medien und speziell die des Bildes (sei es in Form von Fotografien, Video- oder Fernsehbildern) wird in These sechs von Wittwer als ein günstiger Zeitpunkt angesehen, um die immer noch vorhandenen Berührungsängste zwischen Kunst und Technologie endlich zu überwinden.
Das digitale Bild als Schnittstelle weist den Weg zu einer stärkeren Verschmelzung von Kunst und Technologie.
Die neuen Medien zeigen, daß die Grenzziehung zwischen Kunst und Technologie hinfällig und fließende Übergänge Realität sind. Das weltumspannende Internet oder auch die Softwarealgorithmen sind nicht nur relevante Basis für Kunstproduktion, sondern stellen als technologische Strukturen selbst komplexe Kunstgebilde dar.

Die Zukunftsperspektiven der digitalen Bildtechnologie und die Frage wohin sich die analoge Fotografie wohl entwickelt, beschäftigt Wittwer in seiner siebten und letzten These seiner Arbeit "Das digitale Bild ist keine Fotografie".
Wittwer geht davon aus, daß das digitale Bild sein analoges Pendant nicht vollständig verdrängen wird, vielmehr wird es ihm eine Nische zuweisen, aus der heraus sich das analoge Medium neu definieren und weiterentwickeln kann.

Michael Wagner









   
 
               
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