Paul Virilio und Friedrich Kittler im Gespräch
Ausgestrahlt im Deutsch-Französischen Kulturkanal ARTE November 1995
In den fünfziger Jahren hat Albert Einstein gesagt,
dass wir es mit drei Bomben zu tun hätten.
Die erste, die Atombombe, sei bereits gezündet.
Die zweite sei die Informatikbombe;
die dritte, die Bevölkerungsbombe, werde im 21. Jahrhundert explodieren.
Gegenwärtig explodiert die Informatikbombe. Neue Technologien, insbesondere
die Möglichenkeiten zur Schaffung virtueller Welten, verändern Kultur,
Politik und Gesellschaft grundlegend. Zu diesem Thema diskutieren im Gespräch
der Stadtplaner und Philosoph Paul Virilio und Friedrich Kittler, Medienspezialist
an der Humboldt Universität in Berlin.
PV: Wir erleben heute nicht nur einen riesigen Werberummel
um Datenautobahnen, Internet und das, was man Cyberspace nennt,
sondern durch das Teleshopping und Teleworking nicht im Büro sein,
sondern Zuhause am Computer, eine Art von Virtualisierung der Alltagswelt.
Im Fernsehen gibt es virtuelle Geschäfte, auf dem Computerbildschirm
virtuelle Informationsshops. Nun, ich spreche von Geschäften,
aber man könnte sich ebenso die Frage stellen, entsteht nicht bereits eine Art
von virtueller Stadt, eine Stadt der Städte? Ein wirkliches Zentrum der Welt,
das Hyperzentrum der Welt, nicht mehr die Hauptstadt eines Landes,
sondern die Kapitale aller Kapitalen der Welt, New York, Singapur, London,
die grossen Börsenplätze, die grossen Städte, alle zusammen.
Verbirgt sich nicht hinter dieser zunehmenden Virtualisierung ein Verlust
der zwischenmenschen Beziehungen, ein Verlust der unmittelbaren Information?
Das heisst, des Gedankenaustausches, so wie wir ihn gerade hier vollziehen?
Ich glaube, darüber sollten wir nachdenken, nicht nur die Urbanisten,
die Wohnungs- und Städtebauer, sondern auch die, die am Ort des Geschehens
verantwortlich sind. Ich nenne ein Beispiel: was ist denn ein Supermarkt,
ein Einkaufszentrum heute? Nichts anderes als ein Stadtzentrum ohne Stadt,
ein Anfangsstadium der Virtualisierung, noch nicht Teleshopping, aber bereits
auf der gruenen Wiese oder am Stadtrand ein Stadtzentrum ohne Stadt.
Das ist Virtualisierung im Frühstadium, das zweite Stadium ist dann tatsaechlich
Teleshopping zuhause. Gehen Sie nicht mehr aus dem Haus, arbeiten Sie daheim,
kaufen Sie daheim, vergnuegen Sie sich daheim usw. usf.
Was halten Sie von dieser Entwicklung? Mich selbst beunruhigt sie,
mich als Urbanisten.
FK: Es sieht alles aus wie der Erfolg einer wunderbaren und sehr versteckten
Strategie, die nun endlich aufgeht, nachdem sie 15 Jahre lang vorbereitet
worden ist. 1982 sind die ersten personal computers, wie sie so schoen heissen,
verteilt worden. Einsame, lonely cowboys die einfach auf dem Schreibtisch
standen und nichts anderes konnten als Texte schreiben, ich untertreibe jetzt.
Und irgendwann sind die Dingen in den letzten 15 Jahren immer besser geworden
und jetzt können sie alle anderen Medien fressen, das Telephon, den Telegraph
und das Faxgerät und bald auch das Bild und den Ton und die CD.
Und man kann sie alle mit wunderschönen Netzen verdrahten, weltweit.
Aus dieser ganz kleinen Investition, die auf jeden dritten Schreibtisch in den
zivilisierten Ländern steht, entwickelt sich holterdiepolter ein weltweites Netz,
das wirklich wie eine grosse Spinne ist und die anderen Medien das Fürchten lehrt.
Die einzige Ausnahme, die ich machen würde: noch sind was die Virtualisierung
angeht die beiden Bildschirme, in meiner Wohung zumindest, getrennt.
Im Wohnzimmer steht der Fernsehapparat und im Arbeitszimmer steht der zweite
Monitor der am Computer hängt. Und ich glaube, erst an dem Tag,
an dem der Fernseher endlich weg ist, was ich auch sehr hoffe,
und alles über den Computer läuft, kann man von dieser wirklichen Virtualisierung
reden. Im Moment sind wir noch im Zwischenstadium, auf der einen Seite gibt es
das Programmedium Fernsehen, das uns besendet, und auf der andere Seite
gibt es das Programmiermedium, das alle möglichen Ghettoisierungen möglich
macht, und die beiden sind noch in einer sehr gespannten Beziehung zueinander.
Was die Menschen zwischen Wohn- und Arbeitszimmer und den beiden
Bildschirmen angeht, weiss ich nicht.
Ich kann nur sagen, der Computer ist nicht erfunden worden um den Menschen
zu helfen....
http://www.cyberday.de/news/ausgabe_100018.htm
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