Friedrich Dürrenmatt
"Jeder kann knipsen. Auch ein Automat. Aber nicht jeder kann beobachten.
Photographieren ist nur insofern Kunst, als sich seiner die Kunst des Beobachtens
bedient. Beobachten ist ein elementar dichterischer Vorgang.
Auch die Wirklichkeit muss geformt werden, will man sie zum Sprechen bringen."
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Bloch: Wir wissen es, wir leben in einer Spätzeit.
Wir haben uns alle mit der Tradition auseinanderzusetzen,
wie immer wir uns auch dazu verhalten. So viel ist schon gesagt,
schon getan, geschrieben.
In Ihrem Fall kommt dazu, dass Sie sich nun auch selber gegenüberstehen.
Sie haben eine Vergangenheit, stehen in der Überarbeitung Ihrem eigenen Œuvre
gegenüber. Lähmt Sie dies beim eigenen schöpferischen Arbeiten oder gewinnen
Sie Impulse aus dieser Situation? Ich spreche nicht mit dem jungen Dürrenmatt,
sondern in Kenntnis Ihrer Werke, Ihrer bereits gedruckten Aussagen,
Ihrer Triumphe und Misserfolge. Dies hat zur Folge, dass ich bei meinem Fragen
nicht mehr ganz frei bin, sondern einen Erwartungshorizont habe, ganz bestimmte
Reaktionen von Ihnen erwarte, weil ich mir aufgrund Ihres Werkes und
der Kenntnis Ihrer Person ein ganz bestimmtes Bild von Ihnen mache.
Dies ist bei jeder natürlichen Gesprächssituation der Fall, durch das Aufnehmen
dieses Gesprächs wird die Natürlichkeit der Situation auch insofern gestört,
als der "anonyme Zuhörer" dieses mein selbstverständliches Einvernehmen
mit Ihnen ja nicht haben kann, so dass ich mehr und mehr in eine
Katalysatorfunktion hineingerate, um Sie Ihr Bilden und Denken erklären
zu lassen. Ja? In Ihrem bei Diogenes 1978 erschienenen Band "Bilder und
Zeichnungen" stellen Sie die Entstehung eines Bildes dar, das Unbeschreibbare,
Undarstellbare, Unerfassliche. Wo holen Sie denn die Kraft zum Trotzdem,
zur Überwindung all der genannten Schwierigkeiten?
Dürrenmatt: Ich male und schreibe gerade deshalb, weil beides heute
grundsätzlich nicht mehr möglich ist. Die Zeit der geschlossenen Weltbilder
ist vorbei. Ich wäre in dieser Beziehung vielleicht am besten Lessing vergleichbar,
der nicht Wahrheiten darstellt, sondern die Suche nach Wahrheit.
Im Grunde stellen wir heute - auch in den Naturwissenschaften -
nur noch Scheinbilder dar, wie der grosse Physiker Hertz feststellt.
Jedes Bild, jedes Werk, steht schon von seiner Entstehung an grundsätzlich
im Spiegel seiner Mehrdeutigkeit, ist also von vornherein nicht mehr eindeutig
festlegbar. Vielleicht sind es gerade diese Schwierigkeiten, die Unmöglichkeit
der eindeutigen Darstellbarkeit, was mich beim Arbeiten am meisten fasziniert,
der Wettlauf mit dem Scheitern, Versagen. Mich interessiert nicht das genaue
Abbilden der Wirklichkeit, ich bin nicht Photograph.
Bloch:: Sie sagen in einer weiteren Bemerkung: "Die Assoziationen, aus denen
sich meine Bilder zusammenbauen, sind Resultate meines persönlichen
Denkabenteuers, nicht die einer allgemeinen Denkmethode." Sie kreisen in Ihren
Federzeichnungen z. B. um einige ganz bestimmte Themen:
den Turmbau zu Babel, den Atlas, den Gekreuzigten, den Minotaurus,
Sie entwerfen eigentliche Weltallvisionen, Bilder des Grauens.
Greifen wir einmal Atlas heraus -
Dürrenmatt: Die Situation des Atlas ist eine Ursituation.
Er ist der Mann, der das Weltgebäude trägt. Und doch: Trägt nicht jeder die Welt,
seine Welt? Jeder schleppt seine gesundheitlichen Sorgen,
seine Familienprobleme etc. mit sich herum.
Jeder trägt irgendwo das Urbild des Atlas in sich. Die Frage lautet nur:
Ist Atlas heute noch darstellbar und mit welchen Mitteln?
Mir scheint, in der heutigen Welt der Schwarzen Löcher sei diese alte Mythe
wieder darstellbar geworden wie auch der Turmbau zu Babel oder die Kreuzigung.
Das Kreuz - in Wirklichkeit ein schreckliches Marterwerkzeug - ist heute zum
Schmuckstück geworden, muss also wieder zurückgeführt werden auf seine
ursprüngliche Bedeutung, die verloren gegangen ist. Wir leben alle in der
Spannung zwischen unseren Ursprüngen und den zivilisatorischen Erscheinungen
und Verharmlosungen. Deshalb suchen wir - wie Jung, der sein Leben lang
über die Archetypen nachdachte - nach Urbildern und deren heutigen
Erscheinungsformen. Es geht darum, diese entscheidenden Symbole zu finden
und in ihrer zeitgemässen, modernen Form, aber mit dem urtümlichen Sinn,
darzustellen.
(Das Gespräch erschien im Katalog zur Dürrenmatt-Ausstellung im Kantonalen
Kulturzentrum Palais Besenval in Solothurn vom 21. April bis 12. Mai 1991 -
ein Beitrag zu den Solothurner Literaturtagen 1991.)
http://www.spieker.ch/duerrenmatt/texte/text3.php
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